BGH, Urteil vom 02.06.2015, Az. X ZR 103/13
§ 14 PatG; Art. 69 EPÜ
Lesen Sie unsere Zusammenfassung der Entscheidung (hier) oder lesen Sie im Folgenden den Volltext der Entscheidung über die Auslegung eines Klagepatents durch das erkennende Gericht:
Bundesgerichtshof
Urteil
Der X. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom 2. Juni 2015 durch … für Recht erkannt:
Auf die Revision des Klägers wird das am 8. August 2013 verkündete Urteil des 2. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Düsseldorf aufgehoben.
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil der 4b-Zivilkammer des Landgerichts Düsseldorf vom 16. Februar 2012 wird zurückgewiesen.
Die Kosten der Rechtsmittel trägt die Beklagte.
Tatbestand
Der Kläger ist eingetragener Inhaber des mit Wirkung für die Bundesrepublik Deutschland erteilten europäischen Patents 1 366 968 (nachfolgend: Klagepatent). Er nimmt die Beklagte wegen Verletzung des Klagepatents auf Unterlassung, Auskunftserteilung, Rechnungslegung und Feststellung der Verpflichtung zum Schadensersatz in Anspruch. Patentanspruch 1 des Klagepatents hat folgenden Wortlaut:
„Zusammenklappbarer Schiebewagen für Kinder und/oder Puppen mit einem Wagengestell (1), das mindestens aufweist:
– zwei obere, spiegelbildlich angeordnete, von vorn nach hinten ansteigend und im Wesentlichen V-förmig verlaufende, durchgehende oder aus miteinander verbundenen Abschnitten gebildete Gestellholme (2a, 2b), deren untere Enden zum Verbringen aus einer zusammengelegten Stellung in eine Aufstellposition schwenkbar an einem Verbindungsteil (3) angekoppelt sind,
– an welchem Verbindungsteil (3) zwei untere, spiegelbildlich angeordnete, von vorn nach hinten im Wesentlichen V-förmig verlaufende, durchgehende oder aus miteinander verbundenen Abschnitten gebildete verschwenkbare Gestellholme (4a, 4b) angeordnet sind, an deren hinteren Enden Radlagerhalter (5) für hintere Räder oder Räderanordnungen (6) befestigt sind,
– mindestens eine vordere Radanordnung (7) mit mindestens einem Rad, die mittels mindestens eines Radlagerhalters (8) an dem Verbindungsteil (3) oder einem Brückenteil der unteren Gestellholme (4a, 4b) befestigt ist,
gekennzeichnet durch:
– ein aufstellbares Spreizgestänge (9) in Form eines Kreuzgestänges, das in einem bestimmten Abstand zum Verbindungsteil (3) an den Holmen (2a, 2b; 4a, 4b) und diese verbindend vorgesehen und derart ausgebildet ist, dass nach dem Aufstellen des Wagengestells die oberen und die unteren Holme (2a, 2b) in die charakteristische V-Position sowohl zueinander als auch gegeneinander verbracht sind und beim Zusammenlegen des Spreizgestänges (9) die oberen und unteren Holme (4a, 4b) gleichzeitig aufeinander zu verschwenken.“
Die Patentansprüche 2 bis 19 sind unmittelbar oder mittelbar auf Patentanspruch 1 rückbezogen.
Die Beklagte vertreibt einen Kinderwagen unter der Modellbezeichnung „Futura“ über das Internet, dessen nähere Ausgestaltung sich aus den als Anlage K 13 zu den Akten gereichten, teilweise nachfolgend wiedergegebenen Fotografien ergibt (nachfolgend: angegriffene Ausführungsform). Die angegriffene Ausführungsform stellte sie auch auf der Messe „Kind und Jugend 2009“ in Köln aus.
Das Landgericht hat die Klageansprüche im Wesentlichen zuerkannt. Das Berufungsgericht hat sie abgewiesen. Mit seiner vom Senat zugelassenen Revision begehrt der Kläger die Wiederherstellung des landgerichtlichen Urteils. Die Beklagte tritt dem Rechtsmittel entgegen.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision ist begründet und führt zur Aufhebung des Urteils des Berufungsgerichts und zur Wiederherstellung des Urteils erster Instanz, soweit dieses der Klage stattgegeben hat.
I.
Das Klagepatent betrifft einen zusammenklappbaren Wagen für Kinder oder Puppen mit einem Wagengestell.
Nach der Beschreibung ist u.a. aus der französischen Patentanmeldung 2 310 910, aus der die nachfolgende Zeichnung stammt,
ein Kinderwagen mit einer Rahmenkonstruktion bekannt, die ein unteres, scherenartig an einem Gelenkstück angelenktes Paar von Seitenholmen (1, 1′) aufweist, die durch zusammenklappbare Querholme miteinander verbunden sind. Die Rückenholme (14, 14′) sind an festen Lagern an den Seitenholmen schwenkbeweglich gelagert und unterhalb eines zusammenlegbaren Scherengestänges (18, 18′; 19, 19′), das als Spreizgestänge zwischen den Rückenholmen vorgesehen ist, geteilt und gegeneinander verschwenkbar ausgeführt, so dass sie zusammen mit den Sitzholmen ein Kräfteparallelogramm bildeten. Für die Spreizung der Seitenholme ist zusätzlich ein zusammenlegbarer Querholm (17) zwischen den unteren Abschnitten der Rückenholme vorgesehen.
Dem Streitpatent liegt das Problem („die Aufgabe“) zugrunde, die bekannten zusammenklappbaren Schiebewagen derart fortzuentwickeln, dass diese bei vereinfachter Konstruktion leicht aufgestellt und zusammengeklappt werden können.
Das soll nach der Lehre aus Patentanspruch 1 durch eine Vorrichtung mit folgenden Merkmalen erreicht werden:
1. Zusammenklappbarer Schiebewagen für Kinder und/oder Puppen mit einem Wagengestell, das aufweist:
1.1 zwei obere Gestellholme (2a, 2b),
1.2 zwei untere Gestellholme (4a, 4b),
1.3 ein Verbindungsteil (3),
1.4 ein Spreizgestänge (9),
1.5 eine vordere Radanordnung (7) und
1.6 hintere Räder oder Räderanordnungen (6).
2. Die oberen Gestellholme (2a, 2b)
2.1 sind durchgehend oder aus miteinander verbundenen Abschnitten gebildet,
2.2 sind spiegelbildlich angeordnet und
2.3 verlaufen von vorn nach hinten ansteigend und im Wesentlichen V-förmig.
3. Die unteren Gestellholme (4a, 4b),
3.1 sind durchgehend oder aus miteinander verbundenen Abschnitten gebildet,
3.2 sind spiegelbildlich angeordnet,
3.3 verlaufen von vorn nach hinten im Wesentlichen V-förmig,
3.4 sind verschwenkbar und
3.5 weisen hintere Enden auf, an denen Radlager (5) für hintere Räder oder Räderanordnungen (6) befestigt sind.
4. An dem Verbindungsteil (3) sind
4.1 die unteren Enden der oberen Gestellholme (2a, 2b) zum Verbringen aus einer zusammengelegten Stellung in eine Aufstellposition schwenkbar gekoppelt und
4.2 die unteren Gestellholme (4a, 4b) angeordnet.
5. Die vordere Radanordnung (7)
5.1 weist mindestens ein Rad auf und
5.2 ist mittels mindestens eines Radlagerhalters (8) an dem Verbindungsteil (3) oder einem Brückenteil der unteren Gestellholme (4a, 4b) befestigt.
6. Das Spreizgestänge (9) ist
6.1 aufstellbar und
6.2 in Form eines Kreuzgestänges ausgebildet.
6.3 Das Kreuzgestänge ist
6.3.1 an den Holmen (2a, 2b; 4a, 4b) in einem bestimmten Abstand zum Verbindungsteil (3) und die Holme (2a, 2b; 4a, 4b) verbindend vorgesehen,
6.3.2 derart ausgebildet, dass nach dem Aufstellen des Wagengestells (1) die oberen und die unteren Holme (2a, 2b; 4a, 4b) in die charakteristische V-Position sowohl zueinander als auch gegeneinander verbracht sind, und
6.3.3 derart ausgebildet, dass beim Zusammenlegen des Spreizgestänges (9) die oberen und unteren Holme (2a, 2b; 4a, 4b) gleichzeitig aufeinander zu verschwenken.
Die nachfolgend wiedergegebene Zeichnung stammt aus der Klagepatentschrift und zeigt ein erfindungsgemäßes Ausführungsbeispiel:
II.
Das Berufungsgericht hat seine Entscheidung im Wesentlichen wie folgt begründet:
Das Klagepatent sei nicht verletzt, weil die angegriffene Ausführungsform weder ein Kreuzgestänge aufweise, das die Merkmalsgruppe 6.3 wortsinngemäß verwirkliche, noch ein Ersatzmittel, das als patentrechtlich äquivalent angesehen werden könne.
Als Durchschnittsfachmann sei ein Ingenieur der Fachrichtung Maschinenbau anzusehen, der bei einem Hersteller von Kinderwagengestellen mit Konstruktionsaufgaben befasst sei und auf diesem Gebiet über mehrjährige Berufserfahrung verfüge.
Eine wortsinngemäße Verwirklichung scheide schon deshalb aus, weil für das Berufungsgericht aufgrund des im Nichtigkeitsverfahren der Parteien ergangenen Urteils des Bundesgerichtshofs (BGH, Urteil vom 22. Mai 2012 X ZR 58/11) faktisch feststehe, dass ein Kreuzgestänge, dessen Streben wie bei der angegriffenen Ausführungsform lediglich in einer Ebene zueinander verschwenkt werden könnten, nicht als Kreuzgestänge im Sinne der Merkmalsgruppe 6.3 angesehen werden könne. Um keinen Zulassungsgrund zu schaffen, bestehe für das Berufungsgericht eine tatsächliche Bindung an die Auslegung des Bundesgerichtshofs im Nichtigkeitsverfahren.
Unabhängig hiervon treffe die Auslegung des Bundesgerichthofs auch zu. Es möge zwar sein, dass die Übertragung der auf das Kreuzgestänge wirkenden Kraft auf die Holme unabhängig davon ermöglicht werden könne, ob das Kreuzgestänge in nur einer Ebene („zweidimensional“) oder in zwei Ebenen („dreidimensional“) bewegbar sei. Das Klagepatent habe sich aber auf letztere Lösung festgelegt. Rückschlüsse allgemeiner Art auf das erfindungsgemäße Kreuzgestänge aus den Unteransprüchen 6 und 7, wie sie das Landgericht gezogen habe, seien nicht gerechtfertigt, weil sich diese Patentansprüche letztlich nur mit den Schwenklagerhaltern und nicht mit dem Kreuzgestänge als solchem befassten. Dass es möglich wäre, bei der in diesen Ansprüchen gelehrten Konstruktion auch ein zweidimensional wirkendes Kreuzgestänge zu verwenden, bedeute nicht, dass dies auch erfindungsgemäß wäre. Entsprechendes gelte für Unteranspruch 11. Seine Besonderheit bestehe nicht darin, dass dort erstmals ein dreidimensional wirkendes Kreuzgestänge an sich gelehrt würde, sondern (unter anderem) darin, dass zusätzlich Arretierungsmittel für die Stützstrebenenden vorgesehen seien.
Die Angabe in der Beschreibung (Abs. 7, Satz 3), ein erfindungsgemäßes Wagengestell sei ähnlich aufgebaut wie ein Schirmgestänge, es sei aber auch möglich, dass nur die oberen gegenüber den unteren Holmen verschwenkbar seien, sei nicht mit dem Patentanspruch in Einklang zu bringen. Dieser setze in Merkmal 6.3.3 voraus, dass bei Zusammenlegen des Spreizgestänges die oberen und die unteren Holme gleichzeitig aufeinander zu verschwenkten. Verlangt werde damit eine aktive Beteiligung aller Holme einschließlich der unteren, weshalb auch diese verschwenkbar sein müssten.
Auch aus den Ausführungen der Beschreibung (Abs. 9), ein Spreizgestänge in Form eines Kreuzgestänges, z.B. in X-Form, sei besonders vorteilhaft, wenn das Gestänge aus geteilten Stützstreben bestehe, die schwenkbeweglich einerseits an Schwenkhaltern an den Holmen und andererseits an einem zentrischen Lagerhalter angelenkt seien, so dass wie bei einem Regenschirm die Streben durch Bewegung des Lagerhalters in Längsrichtung aufgestellt und zusammengefaltet werden könnten, lasse sich nicht der Umkehrschluss ziehen, dem Patentanspruch 1 unterfielen auch zweidimensional wirkende Kreuzgestänge. Vielmehr betreffe die besondere Eignung spezielle dreidimensional wirkende Kreuzgestänge, nämlich X-förmige. Selbst wenn „besonders vorteilhaft“ ursprünglich als Herausstellungsmerkmal gegenüber nicht schirmartig konstruierten Kreuzgestängen gemeint gewesen sein sollte, habe diese Formulierung angesichts des bei der Auslegung zu beachtenden Primats des Anspruchs ihren Sinn eingebüßt. Das Klagepatent wolle sich damit von dem aus der französischen Patentanmeldung 2 310 910 bekannten, nach dem Prinzip eines Scherengestänges arbeitenden Lösung, bei dem die Holme lediglich in einer Ebene zueinander verschwenkt werden könnten, durch eine Bewegungskopplung in mehr als nur einer Ebene abgrenzen.
III.
Diese Auslegung des Patentanspruchs hält der revisionsrechtlichen Überprüfung nicht stand.
1.
Das Berufungsgericht hat sich zu Unrecht an einer zutreffenden Ermittlung des Sinngehalts des Patentanspruchs 1 dadurch gehindert gesehen, dass es sich an die vermeintliche Erkenntnis des Senats im Nichtigkeitsverfahren gebunden gesehen hat, die Merkmalsgruppe 6.3 erfordere ein Kreuzgestänge, dessen Stützstreben in zwei Ebenen zueinander verschwenkt werden können. Eine solche Bindung besteht jedoch weder rechtlich noch tatsächlich.
Die Bestimmung des Sinngehalts eines Patentanspruchs ist Rechtserkenntnis und vom Verletzungsgericht, wie von jedem anderen damit befassten Gericht, eigenverantwortlich vorzunehmen (BGH, Urteil vom 31. März 2009 X ZR 95/05, BGHZ 180, 215 Rn. 16 Straßenbaumaschine; BGH, Beschluss vom 29. Juni 2010 X ZR 193/03, BGHZ 186, 90 Rn. 15 Crimpwerkzeug III). Dies schließt die Möglichkeit ein, dass das Verletzungsgericht zu einem Auslegungsergebnis gelangt, das von demjenigen abweicht, das der Bundesgerichtshof in einem dasselbe Patent betreffenden Patentnichtigkeitsverfahren gewonnen hat. Eine solche Divergenz rechtfertigt zwar, wenn sie entscheidungserheblich ist, die Zulassung der Revision (BGHZ 186, 90 Rn. 11 ff. Crimpwerkzeug III). Sie unterscheidet sich darin aber nicht von anderen Fällen einer von einer Entscheidung des Bundesgerichtshofs abweichenden und deshalb nach § 543 Abs. 2 Nr. 2 ZPO die Zulassung der Revision rechtfertigenden Beurteilung einer Rechtsfrage durch ein Berufungsgericht. In diesen wie in jenen Fällen hat das Revisionsgericht zu prüfen, ob es an seiner bisherigen Rechtsprechung festhält oder die besseren Gründe für die Beurteilung des Berufungsgerichts streiten. Eine solche bessere Erkenntnis kann sich im Patentstreitverfahren zudem aus vom Berufungsgericht festgestellten, der revisionsrechtlichen Prüfung zugrunde zu legenden Tatsachen ergeben, die im Nichtigkeitsverfahren nicht festgestellt worden sind, sich aber auf die Auslegung des Patents auswirken (BGH, Urteil vom 11. Oktober 2005 X ZR 76/04, BGHZ 164, 261 Rn. 19 Seitenspiegel; Urteil vom 12. Februar 2008 X ZR 153/05, GRUR 2008, 779 Rn. 31 Mehrgangnabe).
2.
Rechtsfehlerhaft hat das Berufungsgericht das Klagepatent dahin ausgelegt, Patentanspruch 1 verlange in Merkmal 6.3.3 ein in zwei Ebenen („dreidimensional“) verschwenkbares Kreuzgestänge.
a)
Nach der Rechtsprechung des Senats sind Beschreibung und Zeichnungen, die dem Fachmann die Lehre des Patentanspruchs erläutern und veranschaulichen, nicht nur für die Bestimmung des Schutzbereichs (Art. 69 Abs. 1 EPÜ, § 14 PatG), sondern ebenso für die Auslegung des Patentanspruchs heranzuziehen, und zwar unabhängig davon, ob diese Auslegung die Grundlage der Verletzungsprüfung, der Prüfung des Gegenstandes des Patentanspruchs auf seine Patentfähigkeit oder der Prüfung eines anderen Nichtigkeitsgrundes ist (BGH, Urteil vom 17. Juli 2012 X ZR 117/11, BGHZ 194, 107 Rn. 27 Polymerschaum I; Urteil vom 12. Mai 2015 X ZR 43/13, juris Rn. 15 – Rotorelemente). Dabei ist die Patentschrift in einem sinnvollen Zusammenhang zu lesen und der Patentanspruch im Zweifel so zu verstehen, dass sich keine Widersprüche zu den Ausführungen in der Beschreibung und den bildlichen Darstellungen in den Zeichnungen ergeben (BGH, Urteil vom 10. Mai 2011 X ZR 16/09, BGHZ 189, 330 Rn. 24 – Okklusionsvorrichtung). Patentschriften stellen im Hinblick auf die dort verwendeten Begriffe gleichsam ihr eigenes Lexikon dar. Weichen diese vom allgemeinen Sprachgebrauch ab, ist letztlich nur der sich aus der Patentschrift ergebende Begriffsinhalt maßgebend (BGH, Urteil vom 2. März 1999 X ZR 85/96, GRUR 1999, 909 Spannschraube).
Nur wenn und soweit sich die Lehre des Patentanspruchs mit der Beschreibung und den Zeichnungen nicht in Einklang bringen lässt und ein unauflösbarer Widerspruch verbleibt, dürfen diejenigen Bestandteile der Beschreibung, die im Patentanspruch keinen Niederschlag gefunden haben, nicht zur Bestimmung des Gegenstands des Patents herangezogen werden (BGHZ 189, 330 Rn. 23 Okklusionsvorrichtung).
Demgemäß kommt eine Auslegung des Patentanspruchs, die zur Folge hätte, dass keines der in der Patentschrift geschilderten Ausführungsbeispiele vom Gegenstand des Patents erfasst würden, nur dann in Betracht, wenn andere Auslegungsmöglichkeiten, die zumindest zur Einbeziehung eines Teils der Ausführungsbeispiele führen, zwingend ausscheiden oder wenn sich aus dem Patentanspruch hinreichend deutliche Anhaltspunkte dafür entnehmen lassen, dass tatsächlich etwas beansprucht wird, das so weitgehend von der Beschreibung abweicht (BGH, Urteil vom 14. Oktober 2014 X ZR 35/11, GRUR 2015, 159 Rn. 26 Zugriffsrechte).
Werden in der Beschreibung mehrere Ausführungsbeispiele als erfindungsgemäß vorgestellt, sind die im Patentanspruch verwendeten Begriffe im Zweifel so zu verstehen, dass sämtliche Ausführungsbeispiele zu ihrer Ausfüllung herangezogen werden können.
b)
Patentanspruch 1 stellt einen zusammenklappbaren Schiebewagen unter Schutz, der neben vorderen und hinteren Radanordnungen im Wesentlichen aus zwei oberen und zwei unteren Gestellholmen besteht, die jeweils am unteren Ende an einem Verbindungsteil angelenkt und jeweils oberhalb in einem bestimmten Abstand von dem Verbindungsteil durch ein Spreizgestänge in Gestalt eines Kreuzgestänges verbunden sind. Dabei soll das Kreuzgestänge derart ausgebildet sein, dass die oberen und unteren Holme nach dem Aufstellen des Wagengestells in die charakteristische V-Position sowohl zueinander als auch gegeneinander verbracht sind (Merkmal 6.3.2) und beim Zusammenlegen des Spreizgestänges gleichzeitig aufeinander zu verschwenken (Merkmal 6.3.3).
Damit ist zwar für die oberen und unteren Holme festgelegt, dass diese beim Zusammenlegen gleichzeitig untereinander und gegenüber dem anderen Holmpaar aus einer V-Position aufeinander zu verschwenken. Dies gilt aber nicht für die Stützstreben des Kreuzgestänges, zu dessen Ausgestaltung Patentanspruch 1 alleine vorsieht, dass dieses jeweils mit den oberen und unteren Holmen verbunden ist und beim Zusammenlegen des Gestells ein gleichzeitiges Aufeinanderzuverschwenken der Holme bewirkt. Ob die Stützstreben des Kreuzgestänges dabei in einer oder in zwei Ebenen bewegbar sind, bleibt offen. Patentanspruch 1 erwähnt dies mit keinem Wort, und auch der Beschreibung lässt sich insoweit kein Anhalt für eine solche Konkretisierung entnehmen. In der Beschreibung wird zwar ein Kreuzgestänge erwähnt, bei dem die Streben wie bei einem Regenschirm durch Bewegen eines zentrischen Lagerhalters in Längsrichtung aufgestellt und zusammengefaltet werden (Abs. 9). Dabei handelt es sich aber lediglich um ein besonders vorteilhaftes Ausführungsbeispiel, das die Beschreibung auch ausdrücklich als solches kenntlich macht und das den weiter gefassten Gegenstand von Patentanspruch 1 nicht zu beschränken vermag. Nichts anderes gilt für die in Unteranspruch 11 beschriebene Ausführungsform.
Hinsichtlich der in Merkmal 6.3.3 enthaltenen Anweisung an den Fachmann, das Kreuzgestänge so auszubilden, dass die oberen und die unteren Holme beim Zusammenlegen des Spreizgestänges „gleichzeitig“ aufeinander zu verschwenken, ist der Beschreibung zunächst zu entnehmen, dass ein erfindungsgemäßes Wagengestell ähnlich wie ein Schirmgestänge aufgebaut ist und aus vier Holmen besteht, die aus einer zusammengeklappten Position in eine aufgestellte Position schwenkbar sind (Abs. 7, Z. 29 bis 33). Anschließend wird aber auch die Möglichkeit erwähnt, nicht die unteren, sondern nur die oberen gegenüber den unteren Holmen in einer Weise verschwenkbar anzuordnen, dass diese aus einer zusammengeklappten Position, in der sie nahezu parallel zu den unteren Holmen verlaufen, in eine Schrägposition verbracht werden, in der das Wagengestell aufgestellt ist (Abs. 7, Z. 34 bis 41). Dies rechtfertigt den Schluss, dass an dem in Merkmal 6.3.3 vorgesehenen gleichzeitigen Aufeinanderzuverschwenken nicht zwingend sowohl die unteren als auch die oberen Gestellholme beteiligt sein müssen, sondern dass es ausreichend ist, wenn es zu einer gleichzeitigen Relativbewegung aller vier Holme komme. Ein solches Verständnis ist entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts mit dem Wortlaut des Patentanspruchs nicht unvereinbar, sondern entspricht einer funktionsorientierten Auslegung. Denn für das mit der patentgemäßen Lehre verfolgte Ziel, eine leichte Handhabung des Wagengestells beim Aufstellen und Zusammenklappen zu erreichen (Abs. 6), ist es unerheblich, ob sich dabei allein die oberen auf die unteren oder auch die unteren auf die oberen Holme zu bewegen.
Ein solches Verständnis des „gleichzeitigen“ Aufeinanderzuverschwenkens der oberen und unteren Holme wird, wie das Landgericht zutreffend ausgeführt hat, zusätzlich durch die Patentansprüche 6 und 7 gestützt, die Schwenklagerhalter für Stützstreben des Spreizgestänges an den unteren oder oberen Holmen vorsehen, wobei ein Schwenklagerhalterpaar an den unteren oder oberen Holmen längsverschieblich und in der Aufstellposition des Spreizgestänges arretierbar angeordnet ist. Dies erlaubt, wie das Berufungsgericht an sich nicht verkennt, ein gleichzeitiges Aufeinanderzuverschwenken der Holme durch eine Bewegung des Kreuzgestänges in einer Ebene. Weder dem Wortlaut des Patentanspruchs 1 noch der Beschreibung sind Anhaltspunkte dafür zu entnehmen, dass eine derartige Ausgestaltung von Patentanspruch 1 nicht erfasst sein soll.
c)
Ein solches Verständnis des Merkmals 6.3.3 setzt sich, ohne dass es hierauf entscheidend ankäme, auch nicht in Widerspruch zu tragenden Erwägungen im Urteil des Senats vom 22. Mai 2012. Soweit es darin heißt, dass ein Kreuzgestänge, dessen „Holme“ (Stützstreben) wie in der französischen Patentanmeldung 2 310 910 lediglich in einer Ebene zueinander verschwenkt werden können, nicht als ein Kreuzgestänge im Sinne der Merkmalsgruppe 6.3 angesehen werden könne, weil es nicht derart ausgebildet sei, dass beim Zusammenlegen obere und untere Holme gleichzeitig aufeinander zu verschwenkt werden können, steht dies in Einklang mit der vorstehenden Auslegung des Merkmals 6.3.3. Denn bei der in der Entgegenhaltung offenbarten Ausgestaltung sind die beiden Stützstreben (18 und 19′ sowie 18′ und 19) mit ihren beiden Enden allein an den oberen Holmen (14 und 14′) des Gestänges angelenkt (Rn. 15 des Senatsurteils), so dass diese, wie auch das Landgericht ausgeführt hat, weder ein Aufeinanderzuverschwenken der oberen und unteren Holme bewirken können, bei dem sich beide Holmpaare bewegen, noch ein solches, bei dem sich allein das obere Holmpaar auf das untere zu bewegt. Die Bemerkung des Senats, dass das Konstruktionsprinzip des erfindungsgemäßen Wagengestelles im Wesentlichen darin liege, dass die vier Holme zum einen an demselben Verbindungsteil angelenkt seien und zum anderen untereinander durch ein als Kreuzgestänge ausgebildetes Spreizgestänge verbunden seien, so dass die oberen und die unteren Holme wie ein Regenschirm bei Aufstellen sowohl zu- als auch gegeneinander in eine V-Position gebracht und beim Zusammenlegen gleichzeitig aufeinander zu verschwenkt werden, kann zwar im Hinblick auf den (dem in den Zeichnungen dargestellten Ausführungsbeispiel der Patentschrift entlehnten) Vergleich mit dem Zusammenfalten und Öffnen eines Regenschirms für sich genommen dahin verstanden werden, dass sich die oberen und die unteren Holme beim Zusammenlegen gleichzeitig bewegen (müssen). Für die Beurteilung der beiden geltend gemachten Nichtigkeitsgründe ist dies jedoch nach den Urteilsgründen ohne Bedeutung geblieben.
IV.
Das Urteil des Berufungsgerichts kann danach keinen Bestand haben und ist aufzuheben. Der Senat kann die Sache selbst entscheiden, weil zusätzliche Feststellungen weder erforderlich noch zu erwarten sind und die Sache daher entscheidungsreif ist (§ 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO).
1.
Nach den nicht beanstandeten Feststellungen des Berufungsgerichts und des Landgerichts sind die oberen und unteren Holme durch das Kreuzgestänge derart verbunden, dass sie sich beim Zusammenlegen jeweils aufeinander zu bewegen. Zudem bewirken Verbindungsschenkel, dass auch die oberen Holme jeweils auf die unteren Holme zu schwenken, so dass eine Verschiebung auf der Längsachse bewirkt wird und ein einziger Kraftakt für das Zusammenlegen des Kinderwagens ausreicht.
Wie bereits das Landgericht zutreffend ausgeführt hat, steht es einer wortsinngemäßen Verwirklichung des Merkmals 6.3.3 nicht entgegen, dass bei der angegriffenen Ausführungsform an dem Verschwenken der oberen auf die unteren Holme neben dem Kreuzgestänge zusätzliche Gestängeteile in Gestalt der Verbindungsschenkel beteiligt sind. Für ein solches Verständnis sprechen nicht nur der Wortlaut des Patentanspruchs 1, der eine solche Ausgestaltung nicht ausschließt, sondern auch die Unteransprüche 6 bis 9, die Beschreibung (Abs. 14) und die Zeichnungen (Figuren 1 bis 3), wonach das Aufeinanderzuverschwenken der Holme neben dem Kreuzgestänge (9) auch durch die Schwenklagerhalter (16a, 16b und 17a und 17b) bewirkt werden kann.
Außerdem ist es für eine wortsinngemäße Verwirklichung des Merkmals 6.3.3 unerheblich, ob die Verschwenkung der oberen auf die unteren Holme während der gesamten Zeit oder nur während eines Teils der Zeit erfolgt, in der sich die oberen und die unteren Holme jeweils aufeinander zu bewegen, weil, wie das Landgericht ebenfalls zutreffend ausgeführt hat, „gleichzeitig“ im Sinne der erfindungsgemäßen Lehre nicht notwendigerweise meint, dass beim Zusammenlegen alle Verschwenkbewegungen ununterbrochen zeitlich parallel erfolgen müssen. Entscheidend ist insoweit allein, dass die Verschwenkungen durch eine Bewegung des Kreuzgestänges bzw. eine Kraftausübung des Benutzers bewirkt werden, so wie dies auch bei der angegriffenen Ausführungsform verwirklicht ist.
2.
Da die angegriffene Ausführungsform auch im Übrigen, wie das Landgericht rechtsfehlerfrei ausgeführt hat, mit Patentanspruch 1 übereinstimmt, fällt der Beklagten eine Verletzung des Klagepatents zur Last.
3.
Sie rechtfertigt nach den weiteren, ebenfalls rechtsfehlerfreien Ausführungen des Landgerichts und den ergänzenden Ausführungen des Berufungsgerichts hierzu im zuerkannten Umfang die Klageansprüche, so dass auf die Revision das erstinstanzliche Urteil wiederherzustellen ist.
V.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 91 Abs. 1, 97 Abs. 1 ZPO.
Vorinstanzen:
LG Düsseldorf, Entscheidung vom 16.02.2012, Az. 4b O 212/09
OLG Düsseldorf, Entscheidung vom 08.08.2013, Az. I-2 U 22/12